Über einen Islamischen Staat, das Existenzrecht
Israels, Terrorismus und Gewalt
Von Professor Farid Esack, Südafrika - 5. Februar 2017
Einleitung und Zusammenfassung
Einige deutsche Politiker und die israelische
Botschaft in Berlin bezichtigen mich, Antisemit zu sein, einen islamischen
Staat in Deutschland zu fordern, und Gewaltanwendung zu unterstützen. Obwohl in
der deutschen Presse täglich über die Angelegenheit berichtet wurde – mit einer
einzigen Ausnahme – hat kein einziger Journalist sich die Mühe gemacht, mich zu
kontaktieren und mich zu meiner Seite der Geschichte zu befragen. Ein sehr
seltsames Verhalten für eine Demokratie.
Meine detaillierte Stellungnahme folgt nach dieser
Zusammenfassung
- Ich habe zu
allen Zeiten konsequent gegen die Vorstellung gekämpft, dass ein Volk inhärent
Gutes oder Böses in seinem Blut oder in seinen Genen trägt. Diese Vorstellung
ist das Kernstück aller Formen von Rassismus – einschließlich des
Antisemitismus.
- ·
Ich habe
niemals gesagt oder angedeutet, dass der Staat Israel oder gar das jüdische Volk
böse Eigenschaften haben sollen, die für sie typisch oder einzigartig sind.
- ·
Angesichts der
Tatsache, dass der Tag nur 24 Stunden hat, ist es das Recht aller Menschen, die
sich für Gerechtigkeit einsetzen, sich mit ihrem Aktivismus auf ein bestimmtes
Gebiet zu konzentrieren, ohne dass ihnen unterstellt werden darf, einen
besonderen Hass gegen die jeweiligen Täter zu hegen. Feministinnen, die gegen
männliche Gewalt ankämpfen, können schließlich auch nicht bezichtigt werden,
alle Männer zu hassen.
- ·
Ich trete zwar
für das Recht aller Menschen ein, ihre Ansichten über einen idealen Staat zum
Ausdruck zu bringen, glaube aber dennoch nicht an ethnische oder religiöse
Staaten.
- ·
Ich lehne alle
Formen von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ab – insbesondere alle
Formen von Gewalt, die sich gegen Zivilisten richten oder Kollateralschäden
unter Zivilisten verursachen.
- ·
Dabei macht es
für mich keinen Unterschied, ob die Gewalt wie in einem Computerspiel durch
Drohnen ausgeübt wird, oder in Form von Bussen, die in eine Ansammlung von
Zivilisten gelenkt werden, was für erheblich mehr Schlagzeilen sorgt. All diese
Formen von Gewalt verursachen Tod und Verwundungen, und in jedem Fall bleiben
trauernde Angehörige und geliebte Menschen zurück. Wir alle werden in unserer Menschlichkeit
herabgesetzt, wenn einige in unserer Mitte so handeln.
- ·
Während meiner
Vorlesungen an der Universität Hamburg habe ich die BDS-Bewegung oder meine
Unterstützung für diese mit keinem Wort erwähnt.
Stellungnahme
In jüngster Zeit wurden wieder einmal verschiedene
Anschuldigungen gegen mich erhoben, deren Ziel es war, meine Unterstützung für
den Freiheitskampf der Palästinenser zu delegitimieren. Wie bereits in einer
früheren Erklärung dargelegt, ist dieser Angriff in erster Linie Teil eines
gezielten Versuchs, der Diskussion über die Unterdrückung des palästinensischen
Volkes in einigen Ländern enge Grenzen zu setzen, und hat wenig mit dem
Antisemitismus-Problem zu tun. (Siehe meine unten abgedruckte frühere
Erklärung.)
In den letzten beiden Wochen sind einige neue
Bezichtigungen aufgetaucht, auf die ich im Interesse der Wahrheit ausführlich
antworten möchte. Es ist auffallend, dass meine Angreifer – in Trumpscher Manier – mit Vorliebe kurze, simplifizierende Tweets
mit geringem geistigem Niveau verfassen. Meine Antwort richtet sich an
Menschen, die lieber die Wahrheit als „alternative Fakten“ vorgesetzt
bekommen.
Zum Thema Islamischer Staat
Man wirft mir vor, bei Vorträgen in Deutschland
implizit einen islamischen Staat zu fordern. Dies basiert vermutlich auf
einer Bemerkung, die ich anlässlich einer Konferenz in Deutschland gemacht
habe. Ich war von der Schura Hamburg, einem eingetragenen Bündnis lokaler
muslimischer Organisationen, eingeladen worden, am 15. Januar 2017 bei einer
Konferenz über Islamophobie in Europa zu sprechen. Mein Thema lautete
„Islam und Demokratie“, und der Veranstaltungsort war die Imam Ali Moschee. An
der Konferenz nahmen Menschen aller Hautfarben und Vertreter der unterschiedlichsten
religiösen und politischen Ansichten teil, darunter auch Zionisten und
Mitglieder der Grünen.
In meinem Vortrag sprach ich über das Recht aller
Gemeinschaften, für ihre eigenen politischen Utopias einzutreten. Ich sagte,
dass mit meiner Herkunft aus Südafrika auch das Recht verbunden sei, einen auf
islamischen Werten basierenden Staat zu befürworten, ebenso wie Veganer das
Recht haben müssten, eine Gesellschaft zu propagieren, in der der
Fleischkonsum grundsätzlich verboten ist. Ich erklärte, dass sich in Südafrika
nur ein winziger Bestandteil der Bevölkerung als kommunistisch beschreiben
würde, dass wir aber dennoch eine lebendige und sehr sichtbare kommunistische
Partei haben, die eine Koalition mit der Regierungspartei unterhält. Ich sprach
mich für folgende Punkte aus:
- a) Eine
Gesellschaft muss idealerweise ihren Bürgern maximale Freiheit garantieren,
unterschiedliche Ideen zum Ausdruck zu bringen. Und
- b) Diese Ideen
dürfen nur mit Ideen und nicht mit Gewalt bekämpft werden.
Ferner glaube ich nicht, dass Redefreiheit auch für
Hassbotschaften, die Anstiftung zur Gewalt und für faschistische Ideen gelten
muss, die ja in sich bereits jede Redefreiheit ausschließen.
Einige Formen von Staaten, die auf islamischen Werten
und nicht auf der buchstabengetreuen Auslegung eines vierzehn Jahrhunderte
alten Gesetzes basieren, könnten durchaus mit unseren derzeitigen Vorstellungen
von Demokratie kompatibel sein. Dennoch habe ich persönlich niemals die Idee
eines islamischen Staates unterstützt, in dem religiöse Identität und Theologie
benutzt oder dahingehend manipuliert werden, eine Gesellschaft auf eine
Weise zu strukturieren, die im Gegensatz zu den demokratischen Prinzipien
und den Menschenrechten für alle Menschen steht, unabhängig von Rasse,
Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht.
Ich habe nichts für einen Staat übrig, der
ausdrücklich für eine bestimmte religiöse oder ethnische Gemeinschaft gegründet
wurde. Es ist mir gleichgültig, wie ein solcher Staat
genannt wird oder auf welcher historischen Basis seine Gründung beruht. Ich bin
überzeugt, dass ein solcher Staat unfehlbar auf eine Diskriminierung des Teils
seiner Bürger zurückgreifen muss, der nicht in das geltende religiöse oder
ethnische Schema passt, um seine exklusivistische, religiöse, rassische oder
ethnische Identität zu bewahren. Meiner Ansicht nach muss das zumindest
zu einer gesellschaftlichen und rechtlichen Diskriminierung von religiösen oder
ethnischen Minderheiten führen und kann in ethnischen Säuberungen kulminieren.
Das schändlichste Beispiel für Letzteres in der modernen Geschichte ist der
Holocaust der Nazis. Ich lade Sie ein, einen drei Jahre alten, von mir
verfassten Artikel in einer Südafrikanischen Zeitung mit dem Titel zu lesen
„Wenn die Juden verschwinden, verschwinden auch wir.“ Meine Ansichten haben
sich seither um nichts geändert.
Über das Existenzrecht Israels
Es ist eine Schande, dass meine vorstehend
beschriebenen Ansichten gezielt dahingehend missinterpretiert werden, dass ich
angeblich zur Vernichtung eines bestimmten Staates aufrufe. Diese Anschuldigung
ist Bestandteil eines kalkulierten Versuchs, in unverschämter Weise den Begriff
„Antisemitismus“ als „Anti-Israelisch“ umzudefinieren. (Übrigens
vertraten und vertreten in Vergangenheit und Gegenwart - beispielsweise
einige Personen in Trumps Regierung – antisemitische Ansichten, unterstützen,
jedoch den Staat Israel und werden von der Pro-Israel-Lobby wegen dieser
unkritischen Unterstützung Israels nicht für ihren Antisemitismus kritisiert.)
Erstens lehne ich die Vorstellung ab, dass irgendein
spezielles Land in unhistorischer Weise besonders „gesegnet“ oder „bevorzugt“
sein soll. Ich halte die Vorstellung für vollkommen bizarr, dass Gott ein
bestimmtes Land mit besonderer Liebe betrachtet und ein anderes Land auf der
anderen Seite eines Flusses, einer Eisenbahnlinie, eines Gebirges, einer Mauer
oder sonst einer imaginären Linie, die in der Hauptstadt irgendeines mächtigen
Landes gezogen wurde, ganz anders beurteilt.
Patriotismus hin oder her, die kalte historische
Tatsache ist, dass Staaten kommen und gehen. Sie werden gestaltet und umgestaltet.
Das Dritte Reich, das tausend Jahre alt werden sollte, ist verschwunden. Die
verzweifelten Sehnsüchte der Menschen, ihre persönliche Bindung, ihre religiöse
Überzeugung oder kindischer Patriotismus hat nichts mit der historischen
Wahrheit zu tun.
„Ewig“ ist kein Konzept, das ich auf irgendeine sozial
oder politisch geschaffene Entität wie einen Staat anwenden kann. Wenn andere
ihre persönliche oder politische Geschichte mit einer unhistorischen Entität –
die gewöhnlich als Gott bezeichnet wird – durcheinanderbringen oder aufwerten
wollen, dann ist das ihre Sache. Es ist aber ziemlich dumm, von mir zu
erwarten, dass ich das ebenfalls glauben soll. Und es ist grausam und
unmenschlich, von anderen zu erwarten, dass sie den Preis dafür bezahlen
sollen.
Im Übrigen bin ich nicht nur Muslim, ich bin auch
Internationalist. Es gab nur einen einzigen Moment, in dem ich stolz auf die
Fahne meines eigenen Landes war: der Augenblick um Mitternacht vom 26. zum 27.
April 1994, als die Fahne des Südafrika der Apartheid eingeholt und die Fahne
eines neuen, demokratischen, nicht rassistischen und nicht sexistischen
ungeteilten Landes aufgezogen wurde.
Was die heute bestehenden Staaten betrifft, so
akzeptiere ich ihre Existenz als historische und politische Tatsache, wobei ich
mir in vollem Umfang dessen bewusst bin (ohne eine feste Meinung dazu zu
haben), dass ihre Grenzen auf die gleiche Weise von der Landkarte gestrichen
werden können, wie sie konstruiert wurden. Ich weigere mich, dem Druck
nachzugeben, dass ich das Existenzrecht irgendeines Staates anerkennen
muss. Einige Ideologen – von denen manche von ihrer Religiosität, andere von
ihrem Nationalismus und wieder andere von ihre eigenen nationalen Geschichte, ihrer
Scham oder ihrer Politik dazu getrieben werden – bestehen darauf, das
Bekenntnis zu Israels Existenzrecht zum Lackmustest der Zivilisation zu
erheben. Diese Meinung vertrete ich nicht.
Mein Lackmustest der Zivilisation basiert auf
Gerechtigkeit. Er basiert nicht auf den Versprechungen eines bestimmten Gottes
an eine spezielle Gruppe oder ein besonderes Volk – seien es die weißen
Afrikaner während der Zeit der Apartheid in Südafrika, die Protestanten in
Nordirland, die indischen Muslime vor der Teilung des Landes, die sich einen
muslimischen Staat wünschten, der später „Pakistan“ genannt wurde (wörtlich
„das Land der Reinen“ auf Urdu) oder auch Juden, die an das Versprochene Land
nur für Juden im historischen Palästina glauben.
Wenn man seinen Gott zum Immobilienmakler einer
bestimmten Gemeinschaft reduziert, der Grundeigentum an seine Lieblingskinder
verteilt, dann führt das zu außerordentlich chaotischen und hässlichen
Konsequenzen für andere Menschen – insbesondere dann, wenn diese und ihre Ahnen
schon seit Tausenden von Jahren in diesem Land leben.
Ich habe während meiner theologischen Ausbildung acht
Jahre lang in einem solchen Land gelebt. Ich habe die Menschen dieses Landes
ungeheuer geliebt – und mit aller Kraft gegen die soziale Unterdrückung angekämpft,
der die Christen in diesem Land ausgesetzt sind.
Meine Weigerung, die ethische Basis solcher Staaten
anzuerkennen, bedeutet nicht, dass ich ihre Einwohner hasse oder dass ich das
Völkerrecht missachte. Die ethischen, politischen und rechtlichen Dimensionen
eines Nationalstaates abzulehnen bedeutet nicht, die Bürger dieses Staates als
Menschen abzulehnen, die Anspruch auf die gleiche Behandlung, die gleichen
Chancen und die gleichen Rechte haben wie alle anderen Menschen in jedem
anderen Nationalstaat auch. Es bedeutet nur die Forderung nach einer
Wiedergeburt eines solchen Nationalstaats, damit er sich in eine andere
Richtung entwickelt, ebenso wie der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika ein
Aufruf zu einem neuen Südafrika war, das auf demokratischen Prinzipien
und den Menschenrechten basierte, und nicht ein Aufruf zur Zerstörung
Südafrikas und seiner Menschen.
Weil ich die Vorstellung ablehne, dass irgendeine
Person inhärent böse sein soll, glaube ich, dass, ebenso wie ein männlicher
Chauvinist durch eine gerechtere Beziehung zu anderen Frauen geheilt werden
kann, auch ein rassistischer Staat verändert werden kann. Ebenso glaube ich,
dass einige Teile meines sexistischen Selbst sterben müssen, damit ich wahrhaft
menschlich werde. Dass ist keine Aufforderung an mich, Selbstmord zu begehen,
und auch keine Einladung an andere, mich umzubringen.
Über die Unterstützung des Terrorismus
Ich komme von einem Kontinent, Afrika, der seine
Freiheit und Befreiung – vom europäischen Kolonialismus, der seine Menschen
terrorisierte – hauptsächlich durch etwas erreichte, was damals als
„Terrorismus“ bezeichnet wurde, aus einem Land, dessen Gründungsvater Nelson
Mandela 27 Jahre im Gefängnis verbrachte. Er ging nicht ins Gefängnis, weil er
Friedenskonzerte in einem Park oder Picknickausflüge für Sonntagsschulen
organisiert hatte, sondern weil er für den bewaffneten Kampf ausgebildet war
und einen solchen Kampf gegen das Apartheidregime führte. Praktischerweise wird
heute vergessen, dass das Apartheidregime Mandela vor die Wahl gestellt hatte,
zehn Jahre früher aus dem Gefängnis entlassen zu werden, sofern er sich
verpflichtete, sich von jeder Gewaltanwendung zu distanzieren. Er entschloss
sich, dies nicht zu tun. Tatsächlich stand Mandela noch vier Jahre nach seiner
Entlassung aus dem Gefängnis auf der Terroristenliste der USA – als er bereits
Friedensnobelpreisträger und der beliebteste Großvater der Welt war.
Mandela ist nicht der einzige, dessen Status als
Terrorist sich veränderte. Beispiele hierfür sind Gerry Adams von der Irischen
Republikanischen Armee, Menachem Begin und Ariel Scharon, um nur einige zu
nennen. Erst kürzlich wurde bekanntgegeben, dass Gulbuddin Hikmatyar, ein
afghanischer Warlord oder Staatsmann, (suchen Sie sich aus, was Sie für
zutreffend halten) von der Terroristenliste der USA gestrichen wurde. Die Irgun
und die Haganna waren zwei jüdische Organisationen, die einen Terrorkrieg gegen
die Engländer in Palästina führten. Die Irgun war für die Bombenexplosion im
King David Hotel am 22. Juli 1946 verantwortlich, dem Zentralbüro der
britischen Mandatsverwaltung, wobei 91 Menschen ums Leben kamen, darunter viele
Diplomaten.
Heute sind einige dieser Personen für manche Menschen
zur Legende geworden, während sie für andere nach wie vor Terroristen sind.
Manche, die in solchen Schlachten ums Leben kommen, werden als Kandidaten für
die Hölle betrachtet, während andere als Märtyrer gelten. „Terrorismus“ ist
immer ein vieldeutiges Wort, und seine Bedeutung hängt ausschließlich davon ab,
wann und von wem es benutzt wird und zu welchem politischen Zweck.
Die Besuche Leila Khaleds in Südafrika schlagen jedes
Mal hohe Wellen. Khaled, die der Volksfront für die Befreiung Palästinas
angehört, wird vom Großteil der Bevölkerung immer noch als Freiheitskämpferin
verehrt, und unzählige südafrikanische Mädchen wurden nach ihr benannt. Bei
ihren Besuchen in Südafrika wird sie gewöhnlich von Kabinettsmitgliedern
vom Flughafen abgeholt, und bei ihren öffentlichen Auftritten sitzen meistens
irgendwelche Minister mit ihr auf der Bühne. (Auf dem einzigen Bild, auf
dem ich hinter ihr stehe, das die Runde macht, steht Ministerin Ayanda Dlodlo
neben ihr.) Selbst Großvater Mandela äußerte den Wunsch, sich mit ihr zu
treffen und verlangte, mit ihr fotografiert zu werden. Hier sind zwei Fotos von
drei Terroristen – von denen zwei Nobelpreisträger sind.
Ich kann durchaus verstehen, dass Khaled für manche
immer noch eine Terroristin ist, ebenso wie Menachem Begin und Ariel Scharon
von vielen anderen nach wie vor als Terroristen betrachtet werden.
Gewaltanwendung – oder die Drohung mit Gewalt – war bei allen Kämpfen um
Freiheit, Selbstbestimmung oder Macht schon immer ein kontrovers diskutiertes
Thema. Manchmal wird die Gewalt entschuldigt oder wegerklärt und manchmal wird
sie verurteilt und Rechenschaft dafür gefordert. Im Endeffekt ist jede
Gewaltanwendung, die gegen Zivilisten gerichtet ist, eine Anklage gegen die
abscheuliche Natur der globalen menschlichen Gemeinschaft, für die Gewalt zu
einem normalen Instrument zu Lösung von Konflikten geworden ist.
BDS-Südafrika und Gewalt
Habe ich oder hat ein anderes Mitglied von
BDS-Südafrika jemals Spendengelder für Leila Khaled oder irgendeine
Organisation gesammelt, die von irgendjemandem als terroristisch
eingestuft wurde? Nein!
Befürworten wir gewaltsame Mittel zur Lösung
politischer Probleme? Nein, das haben wir nie getan und tun es auch heute
nicht!
BDS ist eine gewaltfreie Menschenrechtsbewegung, deren
Aufgabe es ist, Israels Verbrechen der Apartheid gegen das palästinensische
Volk aufzudecken – gegen Muslime, Christen oder Menschen, die Anhänger
irgendeiner anderen Religion oder gar keiner Religion sind.
Für BDS-Südafrika ist Gewalt in jeder Form keine
Möglichkeit, auf die wir zurückgreifen, um die brutale Besetzung des
palästinensischen Volkes durch Israel zu beenden. Eben dies ist der Grund,
warum wir die Menschen aufrufen, sich am friedlichen und gewaltlosen Boykott,
dem Kapitalabzug und den Sanktionen gegen Israel zu beteiligen – nicht gegen
das biblische Erez Israel und auch nicht gegen das jüdische Volk,
sondern gegen den modernen Apartheidstaat Israel.
In dem Land, aus dem ich komme, ist unsere Position
weit verbreitet – es ist ein Land, das hart um seine Befreiung gekämpft hat und
sich sehr genau erinnert, wer seine Verbündeten waren und welches die
hartnäckigsten Verbündeten der Apartheid waren (zu denen auch der Staat Israel
gehörte). Wir sind ein Volk, das Apartheid erkennt, wenn wir sie sehen.
Antisemitismus und der Kampf der Palästinenser um
Gerechtigkeit
Farid Esack (BDS-Südafrika) - Hamburg, 11. Januar 2017
Ich bin Religionswissenschaftler oder genauer gesagt
Professor für islamische Studien. Ich habe akademische Positionen in
Südafrika, Deutschland und den USA bekleidet und in der ganzen Welt Vorlesungen
über Religion, den Islam und Politik gehalten.
Ich habe aktiv am Kampf gegen die Apartheid
teilgenommen und mich aus Prinzip ununterbrochen um Gendergerechtigkeit bemüht,
als Umweltaktivist gewirkt und den Kampf gegen Rassismus sowie den Kampf der
Palästinenser gegen die israelische Apartheid unterstützt.
Ich und zahlreiche Aktivisten werden zunehmend
bezichtigt, Antisemiten zu sein, wenn wir Vorträge zur Unterstützung des
palästinensischen Kampfes und der internationalen BDS-Bewegung halten. (BDS:
Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen gegen Israel).
Im vergangenen Jahr
gerieten die Organisatoren meiner Vortragstour an verschiedenen französischen
Universitäten unter immensen Druck, die Vorträge abzublasen. Ohne Erfolg. Aber
die Unterstellung, Antisemit zu sein wurde neuerdings auch in Deutschland gegen
mich erhoben.
Die Anschuldigungen richten sich vorwiegend gegen die
internationale BDS-Bewegung, genauer gesagt, gegen BDS-Südafrika (BDS-SA), denn
aus der Art der Vorwürfe geht hervor, dass ich in meiner Eigenschaft als
Vorstandsvorsitzender von BDS-SA des Antisemitismus bezichtigt werde. Die
Anschuldigungen beinhalten die besonders erbitternde und vollkommen haltlose
Behauptung, BDS-SA habe zur Ermordung von Juden aufgerufen.
Diese Bezichtigungen erfolgen im Rahmen einer viele
hundert Millionen Dollar teuren Operation der israelischen Regierung, die
inszeniert wird, um dem, was für Unterstützer des Kampfes der Palästinenser um
Gerechtigkeit möglich ist oder auch nur gedacht werden darf, möglichst enge
Grenzen zu setzen. Die Logik dieser Bemühungen ist ganz einfach: überall da, wo
betrübliche Ignoranz herrscht –auch an den Universitäten - für Kontroversen
bezüglich jeder Unterstützung der Palästinenser zu sorgen, und den
Verantwortlichen für die Verwaltung der Universitäten und allen
Entitäten, die Räumlichkeiten für Solidaritätsveranstaltungen mit den
Palästinensern zur Verfügung stellen, das Leben so schwer wie möglich zu
machen. Verwaltungsangestellte wollen gewöhnlich nur in Ruhe ihr Leben
leben und sind selten bereit, sich mit Kontroversen auseinanderzusetzen.
Ich glaube keinen Augenblick lang, dass die Personen,
die solche Anschuldigungen am lautstärksten verbreiten, diese selbst ernst
nehmen. Sie wissen lediglich ihre Wirksamkeit als Mittel zu schätzen, um jede
abweichende Meinung zu unterdrücken. Leider sind sie ebenso wie der Nazi-Mörder
Joseph Goebbels davon überzeugt, dass man eine Lüge nur oft genug wiederholen
muss, damit sie schließlich geglaubt wird. Dadurch bin ich zu meinem Bedauern
wieder einmal gezwungen, die Sache richtig zu stellen, wobei ich jedoch
gleichzeitig das Thema Vorurteil und Diskriminierung untersuche.
Weder ich noch ein anderes Vorstandsmitglied von
BDS-SA haben jemals irgendeine Erklärung abgegeben, die vernünftiger Weise als
Antisemitismus interpretiert werden könnte. Unter Antisemitismus verstehe ich
die Vorstellung, dass Bosheit oder irgendetwas Negatives für das jüdische Volk
als ethnische oder religiöse Gemeinschaft kennzeichnend ist, oder dass das
jüdische Volk „inhärent“ irgendwelche Gruppeneigenschaften außerhalb eines historischen
oder anderen Kontexts besitzt und/oder dass dem jüdischen Volk aufgrund
seiner ethnischen oder religiösen Identität Schaden zugefügte werden muss.
Mein Leben lang habe ich mich konsequent gegen jede
Form von „Rassismus“ gewendet. Unter Rassismus verstehe ich sowohl das
Vorurteil und die Art und Weise, wie dieses von den Mächtigen benutzt wird, als
auch die Vorstellung, dass irgendein menschlicher Charakterzug oder eine gute
oder schlechte Eigenschaft einer bestimmten Rasse oder ethnischen Gruppe zugeordnet
werden kann, und die Tendenz der Mächtigen, dies für ihre Zwecke nutzbar zu
machen. Tatsächlich vertrete ich die Meinung, dass bereits die Vorstellung von
der Existenz bestimmter Rassen mit spezifischen Wesenszügen eine
wissenschaftliche Absurdität und eine menschliche Erfindung ist.
Rassismus kann verschiedene Formen annehmen – und in
dem Ausmaß, in dem viele Juden (und andere) sich selbst als Rasse betrachten,
kann die Ablehnung alles Jüdischen als Rassismus beschrieben werden. Diese Form
des Rassismus war während eines großen Teils der Geschichte des Christentums
besonders tief verwurzelt und abscheulich.
Obwohl die antijüdische Gesinnung in muslimischen
Gesellschaften niemals das barbarische Ausmaß erreichte wie in Europa, wo sie
in der Ermordung von rund 6 Millionen Juden kulminierte, machten sich etliche
muslimische Gesellschaften ebenfalls der antijüdischen Diskriminierung
schuldig, und leider ist antijüdischer Rassismus unter Muslimen auch heute
nicht ungewöhnlich. Als Muslim habe ich immer wieder mein Bedauern und meinen
Ärger darüber zum Ausdruck gebracht, habe diesen Rassismus als Aktivist
verurteilt und als Akademiker darüber geschrieben. Ferner habe ich eine
Kampagne gegen muslimischen Antisemitismus initiiert.
Wenn ein Volk – gleichgültig welches Volk – sich
selbst aufgrund seines „Blutes“ oder seiner Hautfarbe besondere menschliche
Charakteristika oder Verantwortlichkeiten zuschreibt, dann ist auch das eine
Form von Rassismus.
Bestimmten Menschen aufgrund ihrer Blutlinien
bestimmte soziale Rollen zuzuschreiben oder Erwartungen an sie zu stellen, ist
ebenfalls Rassismus. Beispiele dafür sind Slogans wie „ die Weißen sind dazu
geschaffen, für die Schwarzen zu sorgen“, „Ostasiaten sind eine
‚Muster-Minorität‘“, „Alle Weißen sind Teufel“, „Die Iren sind dumm“ oder „Die
Juden sind das auserwählte Volk“.
Die Schrecknisse des Holocaust waren, ebenso wie
andere Katastrophen der Menschheit, in einmaliger Weise entsetzlich. Aber
eine Form des Rassismus – in diesem Fall den Antisemitismus – zu einer eigenen
Klasse zu erheben, für den ein eigener, für Antisemiten reservierter Platz in
der Hölle vorgesehen ist, ist in Wahrheit eine weitere Manifestation der
privilegierten Stellung der Weißen. Ferner ist es ein Beispiel dafür, wie
Europa seine spezifischen Ängste auf die ganze Welt projiziert.
Wer
ernsthaft besorgt über den Antisemitismus als Bestandteil seiner Opposition
gegen jede Form von Rassismus ist, muss sich davor hüten, diese Form des
Rassismus zu einem Verbrechen zu erheben, das schwerer wiegt als andere. Dies
ist besonders relevant angesichts der Tatsache, dass die Juden in der heutigen
Welt in ihrem täglichen Leben nicht die gleiche Diskriminierung erfahren wie
beispielsweise schwarze Menschen und insbesondere afrikanische
Amerikaner. Oder auch Muslime gegenwärtig in Südafrika, wo man ohne
Weiteres behaupten könnte, dass Islamphobie wesentlich ausgeprägter ist als
Antisemitismus. In anderen Ländern, insbesondere in Europa, ist die
Islamphobie (und der anti-afrikanische Rassismus sowie der Glaube an die
Überlegenheit der Weißen) wesentlich schlimmer. Alle Formen von Rassismus haben
ihre Bedeutung, und jede muss entsprechend der Wirkung bewertet werden, die sie
zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte für ein Volk hat.
Manche Juden versuchen verzweifelt, den gegenwärtigen
israelischen Staat zu einem Synonym der jüdischen Identität zu machen und diese
Vorstellung zu einer strikten Form von Orthodoxie zu erklären. Kritik am Staat
Israel bedeutet für sie Kritik an allen Juden. Sie „synonymisieren“ die beiden
Begriffe (die Juden und den Staat Israel). Viele andere, darunter auch mache
orthodoxen religiösen Juden und anti- oder nicht zionistische Juden wie Ruth
First, Denis Goldberg, Ronnie Kasrils und in zunehmendem Maß jüngere Juden
lehnen diese Synonymisierung ab.
Diese Logik erinnert an die Behauptung des
IS, dass jeder, der seine besondere Form des Islam nicht akzeptiert, ein Kafir,
(arabisch für ‚Ketzer‘) oder ein Feind des Islam ist, der alle Muslime hasst.
Diese Logik (Judaismus/Juden = der Staat Israel) zu akzeptieren, bedeutet, die
vielen Juden auszuschließen, die mit dem Staat Israel nicht einverstanden sind
(entweder mit der Idee eines jüdischen Staates oder der Vorstellung, dass
dieser Staat kein Unrecht begehen kann).
Israel und der politische Zionismus sind der
Mechanismus, den viele Juden in aller Welt als sicherste Garantie für das
Überleben des jüdischen Volkes sehen. Manche würden sogar behaupten, er sei
„die einzige Möglichkeit, um zu überleben“. Selbst wenn man diese falsche
Prämisse akzeptiert – und viele tun dies nicht – ist es ein eigenartiges
europäisches Phänomen, ein anderes Volk, die Palästinenser, zu zwingen, einen
hohen Preis– in Form von Leben, Würde und Land – für diese Vorstellung vom
„Überleben“ zu zahlen. Die politischen Zionisten – von denen viele Atheisten
waren und sind – haben kein Problem damit, dieses politische Projekt mit der
biblischen Vorstellung von Gottes Versprechen an das jüdische Volk zu
verschmelzen, dem Konzept des gelobten Landes. Aber wie die Südafrikaner
bezeugen können, haben Apartheid und Kolonialisierung nichts Biblisches oder
Heiliges an sich.
Einem Gemeinwesen steht es natürlich frei, an ein
Versprechen Gottes zu glauben. Aber in einer Welt, in der es zahlreiche
Gemeinschaften gibt, die alle ihre eigenen Götter und Vorstellungen von Gott
und ihre eigenen heiligen Texte haben, führt dies notgedrungen zu unschönen
Entwicklungen. Gegenwärtig besteht der einzige uns zur Verfügung stehende
Mechanismus für Gespräche, die uns aus dem Chaos herausführen können, in den
universellen Menschenrechten, dem Völkerrecht und der dialogischen Ethik. Die
Tatsache, dass sowohl die staatlichen als auch die nicht-staatlichen Akteure
regelmäßig auf nackte Gewalt zurückgreifen, um ohne Rücksicht auf diese ihren
Willen durchzusetzen, macht sie nicht ungültig oder sinnlos – insbesondere
nicht für die Menschen, denen es um Freiheit und Gerechtigkeit geht.
BDS ist eine internationale Kampagne mit dem
Ziel, Israel für seine zahlreichen Menschenrechteverletzungen gegen die
Palästinenser zur Verantwortung zu ziehen. Sie hat sehr viel mit den Folgen des
europäischen Antisemitismus für das palästinensische Volk zu tun, aber absolut
nichts mit den Überzeugungen, die der langen und abscheulichen Geschichte des
europäischen Antisemitismus zugrunde liegen. Leider ist die antijüdische
Gesinnung in Europa unter der Oberfläche nach wie vor lebendig und aktiv. Und
ich spreche hier vom „alten Europa“ und nicht von dem Europa der jüngsten –
vorwiegend muslimischen – Immigranten.
Die internationale BDS-Bewegung hat ihre Wurzeln und
bezieht ihre Inspirationen aus der erfolgreichen Boykottbewegung im Kampf gegen
die Apartheid in Südafrika. In dieser Bewegung spielten Kirchen,
Menschenrechtsorganisationen, Interessengruppen, Aktivisten und viele nicht
kirchlich organisierte Menschen aus Deutschland, den Niederlanden, Irland,
Großbritannien und den USA sowie Regierungen von Ländern wie Kuba, Tansania,
Sambia, der Sowjetunion, Schweden , Algerien und andere eine bedeutende Rolle.
Gegen die Apartheid zu sein machte einen zum Gegner der Vorherrschaft der
Weißen in Südafrika. Es machte einen jedoch nicht zum Gegner Südafrikas und
bedeutete auch nicht, dass man ein Gegner der Weißen war.
Ausgerechnet Südafrika in den sechziger und siebziger
Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts mit Sanktionen zu belegen, bedeutete nicht,
dass man die weißen Südafrikaner besonders hasste oder dass man nicht an
Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit in anderen Zusammenhängen
interessiert war. Es bedeutete lediglich, dass man, wenn man seinen Aktivismus
ernst nahm, mit der Realität zu kämpfen hatte, dass der Tag nur 24 Stunden hat.
Die Entscheidung, auf welche Manifestationen von
Ungerechtigkeit sich einzelne Personen oder Gruppen konzentrieren wollen, ist
ausschließlich ihre eigene Sache. Der Entschluss, sich gegen die Unterdrückung
der Rohingya-Muslime in Burma zu engagieren, macht einen nicht zum Hasser der
Burmesen und bedeutet auch nicht, dass man gegen das burmesische Volk, gegen
Buddhisten oder gegen die burmesische Regierung mehr Ressentiments hegt als
gegen andere Unterdrücker. Wenn man sich entscheidet, sich auf die
Gerechtigkeit in der Beziehung zwischen den Geschlechtern zu konzentrieren
statt sich für Black Lives Matter zu engagieren, bedeutet das nicht, dass man
ein Feind aller Männer ist.
BDS-Südafrika arbeitet mit Mitgliedern aller
Gemeinschaften, einschließlich der jüdischen Gemeinschaft in Fragen der
Gerechtigkeit und der Befreiung der Palästinenser zusammen. Sie ist Teil einer
internationalen und gewaltfreien Bewegung für die Befreiung – ja, hauptsächlich
die Befreiung der Palästinenser. Aber ebenso wie das Ende der Apartheid eine
ernsthafte Möglichkeit für viele Weiße bedeutete, wirklich menschlich zu werden
und sich von ihrem Rassismus zu befreien, und ebenso wie Gerechtigkeit für die
Frauen die einzige Möglichkeit für die wahre Befreiung der Männer ist, so wird
die Freiheit für die Palästinenser die Befreiung vieler Zionisten von ihrem
rassistischen Denken und ihren Ängsten vor den Palästinensern bedeuten.
Diese Bewegung und ihre Vertreter als Antisemiten zu
beschreiben ist weder korrekt noch im Interesse das Kampfes gegen Rassismus,
Unterdrückung und Ungerechtigkeit.