Es ist stürmisch, der Wind peitscht durch die Bäume, und vereinzelte Regentropfen schlagen uns ins Gesicht, als wir den matschigen Feldweg hinunter zu Nassers Haus gehen. Es sind einige hundert Meter von den paar Häusern um den Friedhof herum, die das Dorf Juhor al-Dik bilden, bis zu seinem kleinen Häuschen nahe der Grenze. „Auf Wiedersehen“, hatte uns der Fahrer, der uns aus diesem entlegenen Gebiet wieder abholen wird beim Abschied zugerufen, und mit Blick auf den von uns eingeschlagenen Weg lachend hinzugefügt: „Inshaallah – so Gott will“.
Doch selbst unter diesen Umständen, und selbst bei diesem Wetter kommt man nicht umhin zu bemerken, wie schön diese Gegend einmal gewesen sein muss und eigentlich trotz allem noch immer ist. Während sonst fast jeder Ort Gazas laut und überfüllt ist, ist hier freies Land und wohltuende Stille. Es stehen noch ein paar Olivenbäume, die von den zahlreichen Panzerinvasionen übrig geblieben sind, ein paar kleinere wurden mutig neu gepflanzt. Dazwischen wächst das jetzt im Winter saftig grüne Gras der Wiesen. Jedenfalls dort, wo es nicht erneut von israelischen Bulldozern umgepflügt wurde. Und gerade als wir darüber reden, wie friedlich dieser Ort eigentlich ist, wird uns jäh bewusst, dass diese Ruhe trügerisch ist. Auf der anderen Seite der Stacheldrahtgrenze taucht auf einmal ein Jeep des israelischen Militärs auf. Er bleibt stehen, als er uns sieht. Meine beiden Kolleginnen und ich werfen uns besorgte Blicke zu, wortlos öffnen wir unsere Haare und fangen an, unauffällig vor unserem palästinensischen Übersetzer zu laufen. Was ist das für eine Welt, in der blonde Haare lebensrettend sind?
Der Jeep fährt weiter. Wir atmen auf und können nicht einmal erahnen, wie es ist, die eigenen Kinder tagtäglich in dieser Gefahr zu wissen.
Nasser freut sich, als er uns sieht. Er hat einen guten Tag. Wir haben ihn zuvor mit einer lokalen Mitarbeiterin von ‚Save the Children Palestine‘ besucht, die psychologische Betreuung seiner Kinder wird schon morgen anfangen. Die Mitarbeiterin diagnostizierte ein starkes Trauma bei den Kindern, sie haben ihre Mutter verbluten sehen. Verstärkt wurde das durch die unsicheren Lebensumstände. In ihrem Bericht wurde außerdem festgehalten, dass “die Familie unter starker Armut leidet, die einen Mangel an Nahrung, medizinischer Versorgung, Kleidung und Decken hervorgerufen hat”.
Zwei Termine haben wir für Nasser mit UNRWA organisiert. Beim ersten wurde er nach langer Anfahrt weggeschickt, ohne dass jemand mit ihm gesprochen hätte, beim zweiten wurde ihm lediglich gesagt, ein Mitarbeiter von UNRWA würde ihm einen Besuch abstatten. Dieser kam allerdings gar nicht bis zum Haus – die Koordination mit der israelischen Seite schlug fehl.
Nasser führt uns auf sein Dach und zeigt uns die neusten Einschusslöcher. An den Stellen, an denen die Wand aus Beton ist, sieht man die Kugeln stecken, durch weichere Stellen des Hauses sind sie hindurchgetreten. Doch alle zur Grenze gerichteten Wände sehen aus wie Schweizer Käse, und überall sieht man die kleinen Nägel der Flechettebomben herausragen.
Nasser kann nicht einfach von hier wegziehen. Sobald er sein Haus leer stehen lässt und wegzieht, wird es mitsamt seinem Land von israelischen Bulldozern plattgewalzt werden. Das würde für ihn bedeuten, nie wieder auf eigenen Beinen stehen zu können, er lebt von der Bewirtschaftung dieses Fleckens Erde. Das weiter weg gelegene Flüchtlingslager kommt somit als neues Zuhause nicht in Frage. Und wie soll er in das kleine Dörfchen ziehen, in dem die Kinder direkt neben dem Friedhof, auf dem ihre Mutter begraben ist, wohnen würden?
Die Lösung wäre ein neues kleines Häuschen, dort wo jetzt sein Zelt steht. Doch das ist teuer und die Chance, dass eine Organisation die Kosten übernehmen wird, ist sehr gering. „Die Wand zur Grenze, die wird auf jeden Fall aus doppeltem Zement sein“, sagt Nasser, der diesen Traum nicht aufgeben will und schenkt uns eins seiner seltenen Lächeln.
Denn trotz allem hat Nasser heute einen guten Tag. Seine Kinder werden bald die dringend benötigte Therapie bekommen. Und von dem ersten Spendengeld, das uns und damit auch ihn erreicht hat, hat er Strom zu seinem Zelt verlegt. Darauf, dass an einem Ort wie diesem für verängstigte Kinder Licht in der Nacht wichtiger ist, wenn Schüsse fallen, als ein paar Decken mehr, darauf sind wir gar nicht gekommen. Wir können nicht annähernd erahnen, wie es ist, als Kind in einer solchen Umgebung aufzuwachsen. Jeden Abend geht die Familie in das Zelt, sobald es dunkel wird.
Doch noch ist es hell, wir sitzen in seinem Haus und trinken Tee. Nasser erzählt uns, wie die Mitarbeiterin von „Safe the Children“ seinen ältesten Sohn gefragt hat, was er gerne werden möchte, wenn er mal groß sei. “Wofür soll ich denn groß werden”, hat Alaa, 10 Jahre alt, geantwortet. “Meine Mutter ist nicht mehr hier. Ich will nur meine Mutter wieder sehen.”
Dann hört Nasser auf zu erzählen. Er springt schon wieder auf, seine Kinder sind draußen. Er rennt zur Tür, wie jedes Mal, wenn er etwas Verdächtiges hört, einen Knall zum Beispiel. Wer weiß, ob das nur der Wind war? Oder vielleicht hat auch eins seiner Kinder nach ihm gerufen?
Der Wind wird stärker. Er zieht in das undichte Haus, wir frösteln in unseren Jacken. Und fragen Nasser, der wieder da ist, ob es eine Hilfe wäre, wenn wir ein paar Nächte in der Nähe übernachten würden. “Nein, nein”, antwortet er leise. “Das ist zu gefährlich für euch. Die Soldaten kommen manchmal bis zu unserem Haus. Wenn sie euch sehen, würden sie euch verhaften.”
Also gehen wir den schmalen Feldweg zurück, der an seinem Zelt vorbeiführt. Es wird langsam dunkel, auch Nasser und seine Kinder können nicht mehr lange im Haus bleiben. Die Zeltplanen flattern im Wind, man sieht die zwei dünnen Matratzen auf dem Boden liegen. An der hölzernen Wand der direkt daneben provisorisch eingerichteten Toilette hängt eine nagelneue weiße Glühbirne.
von VERA MACHT
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