Evelyn Hecht-Galinski, deutsche Publizistin aus dem hinteren Kandertal, ist die Tochter des 1992 verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski. Sie tritt seit Jahren für einen gerechten Frieden zwischen Palästina und Israel ein.
Ihre Kritik richtet sich sowohl gegen die einseitig israelhörige Linie des Zentralrats der Juden in Deutschland als auch gegen die israelische Apartheidspolitik. Dies führte in der Vergangenheit immer wieder zu Antisemitismusvorwürfen, wogegen sich Frau Hecht-Galinski vehement wehrt. Antisemitismus und Antizionismus haben nichts gemeinsam, im Gegenteil - Israelkritik mit Antisemitismus gleich zu setzen birgt die Gefahr in sich, echten Antisemitismus zu verharmlosen.
Evelyn Hecht-Galinski schreibt monatliche Kolummnen für das "Palästina-Portal" von Erhard Arendt (http://www.arendt-art.de/deutsch/palestina/Stimmen_deutsch/hecht-galinski_evelyn_das_elfte_gebot_israel_darf_alles_free_gaza.htm), die auch von anderen Zeitungen, wie z. B. der NRhZ übernommen werden. Sie spricht auf Vorträgen über die Situation im Nahen Osten und übt an der unerträglichen Situation der PalästinenserInnen scharfe Kritik. Zuletzt sprach sie am 8.Mai 2010 auf dem 8. Europäischen Palästinenserkongress in Berlin vor mehreren Tausend Besuchern.
Kommentar des Monats Mai 2010 beim Palästina-Portal
von Evelyn Hecht-Galinski, Publizistin
Rede auf dem 8. Europäischen Palästinenserkongress in Berlin
Unsere Heimkehr ist gewiss - Freiheit für unsere Gefangenen
Grußwort Tempodrom Berlin - 8. Mai 201
"Salam Aleikum,
sehr geehrte, liebe palästinensische Freunde und Freundinnen,
Ich betrachte es als eine große Ehre, dass ich als deutsche Jüdin hier bei Ihnen auf dem 8. Europäischen Palästinenserkongress in Berlin sprechen darf. Das heutige geschichtsträchtige Datum des 8. Mai, des Tages der Befreiung vom Faschismus und der Nazi-Diktatur vor 65 Jahren, sollte dem Staat Israel und allen Verfolgten, die selbst so Schreckliches erlebt haben, Mahnung sein, nie wieder Unrecht und Unterdrückung zu dulden oder selbst auszuüben.
62 Jahre Vertreibung und ethnische Säuberung sind genug! 43 Jahre Besetzung und Unterdrückung sind genug! Schlimmerweise ist es für Israel nie genug. Am 13. April trat die neueste Perversion des „Jüdischen Staates“ in Kraft: Ein Militärerlass, der den Boden für Massendeportationen aus der Westbank bereitet. Diese Verordnung ist ein klarer Verstoß gegen Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention. Dieser Erlass ist ungesetzlich und verstößt gegen internationales Recht, da israelische Gesetze im Westjordanland – also auf besetztem Gebiet – nicht anzuwenden sind. Diese Anordnung beweist nur ein weiteres Mal die Macht und die Willkür der israelischen Armee, gegen unliebsame Palästinenser vorzugehen.
Ich fordere Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel, daher auf, gegen diese Besatzerwillkür zu protestieren und sich bei der israelischen Regierung dafür einzusetzen, dass diese unrechtmäßigen Verordnungen zurückgenommen werden. Außerdem fordere ich Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel, auf, den Begriff der Sicherheit Israels als Staaträson für die deutsche Politik rückgängig zu machen. Dieser Begriff stützt sich nicht auf eine demokratische Legitimität. Nein - ganz im Gegenteil -, das verstößt gegen unser Grundgesetz und gegen allen politischen Anstand, die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson zu erklären.
Genau diese Feststellung führt uns auch zur Problematik der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel.
Das unbeschreibliche Unrecht, das von Deutschen organisiert, an den europäischen Juden/ Jüdinnen begangen wurde, darf nicht dafür herhalten, dass anderen Menschen und Völkern Unrecht angetan wird.
Unsere ganze moralische Herausforderung besteht einerseits darin, der Verantwortung gerecht zu werden, die Lehren aus den Verbrechen des Dritten Reiches zu ziehen, es aber andererseits nicht zuzulassen, dass aufgrund dieses schrecklichen Vermächtnisses uns (Deutschen) das Recht abgesprochen werden soll, aktuelle Verbrechen anzuprangern - und das nur, weil diese von einem Staat begangen werden, der sich selbst als jüdisch bezeichnet. Sich dieser Wahrheit zu stellen, ist die würdigste Form der Holocaust-Erinnerung. Daher möchte ich betonen: Nicht das palästinensische Volk ist schuld am Holocaust, also der Ermordung der europäischen Juden.
Sie aber, die Tausende, die hier stellvertretend für viele Millionen palästinensische Flüchtlinge versammelt sind, sie sind die unschuldigen Leidtragenden dieser israelischen Unrechtspolitik, des Landraubes und der Besatzung.
Solange Israel nicht bereit ist, die palästinensischen Bürger und Bürgerinnen als gleichwertig anzuerkennen und das palästinensische Volk weiter entmenschlicht und unterdrückt, wird es nie Frieden und ein friedliches Zusammenleben geben.
Sogar das öffentliche Gedenken an die Nakba soll ihnen nach Willen der israelischen Regierung genommen werden. Man arbeitet an einem Gesetz, dieses Gedenken unter Strafe zu stellen.
Nach dem Willen der israelischen Regierung soll ihnen der unverhandelbare Ostteil von Jerusalem – seit 1967 unrechtmäßig von Israel besetzt - für einen zukünftigen Palästinenserstaat als Hauptstadt genommen werden. Die israelische Regierung will ihnen auch den Anspruch des Rückkehrrechts vorenthalten, der ihnen völkerrechtlich zusteht.
So bewahren viele palästinensische Vertriebene noch heute ihre Hausschlüssel auf und geben sie an ihre Kinder und Kindeskinder weiter im Bewusstsein: Wir kommen zurück!
Israel hat den Schlüssel für das größte Freiluftgefängnis der Welt – nämlich Gaza – ins Meer geworfen. Der schleichende Genozid an 1,5 Millionen eingeschlossenen Palästinensern schreitet unaufhörlich voran. Auch die Blockade nach dem schrecklichen Angriff auf Gaza mit von Israel über 1.400 ermordeten Palästinensern geht weiter. Die Verantwortlichen für diesen Angriff, gehören eindeutig vor das Haager Kriegstribunal.
Nicht umsonst bekämpft Israel den Goldstone Report so vehement, der diese Kriegsverbrechen dokumentiert. Der Jurist Goldstone wurde daher von offizieller israelischer und jüdischer Seite verleumdet, angegriffen und bekämpft.
Ich möchte Ihnen auch meine Solidarität mit den etwa 10.000 Palästinensern in israelischer Haft aussprechen – unter ihnen Frauen, Kinder und die führende politische Intelligenz. Schon meine Freundin und mein Vorbild, die große Menschenrechtsanwältin, Felicia Langer, schilderte mir die unmenschlichen Folterungen und Haftbedingungen, unter denen ihre palästinensischen Mandanten und andere Häftlinge in israelischen Gefängnissen zu leiden hatten. Dieser Einsatz Felicia Langers für die Menschenrechte wurde mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes von Bundespräsident Köhler gewürdigt. Ich betrachte das auch als einen kleinen Erfolg, für uns alle.
Nochmals: Frau Bundeskanzlerin Merkel, ich ersuche Sie: Pochen Sie auch bei Israel auf die Einhaltung der Menschenrechte und auf die Verwirklichung der 4. Genfer Konvention, der wir verpflichtet sind.
Wo bleibt Ihr demokratisches Bewusstsein als ehemalige Bürgerin eines totalitären Unrechtsstaates, wenn Israel die Rechte des Palästinensischen Volkes mit Füßen tritt und negiert?
Für mich als geborene Berlinerin ist es ein ganz besonderes Gefühl, heute am 8. Mai, dem Tag der Befreiung und dem Ende der Nazi-Herrschaft, auch des Mauerfalls vor 20 Jahren zu gedenken. Ich weiß als Berlinerin, wovon ich spreche, wenn ich an die Berliner Mauer erinnere. So frage ich uns alle:
Wann werden wir den Tag erleben, dass die israelische Apartheidmauer - die tief durch geraubtes und besetztes palästinensisches Land führt und die auf diesem unrechtmäßig vom „Jüdischen Staat“ errichtet wurde - so fällt wie die Berliner Mauer? Wann werden die schikanösen Check Points fallen? Wann werden Sie – die Palästinenser – Ihre Familien wieder frei und grenzenlos besuchen können?
Das wird nur möglich werden, wenn der amerikanische Druck so groß auf Israel wird, wie damals der russische auf die DDR. Herr Netanjahu, reißen Sie die Mauer nieder!
Liebe palästinensische Freunde und Freundinnen: Ich hoffe für Sie alle, die es denn möchten, dass Ihnen nach dem Motto Ihres Kongresses das Ihnen zustehende Rückkehrrecht nach Israel/ Palästina ermöglicht wird und für Sie damit ein friedliches und demokratisches Zusammenleben wahr wird.
Das Rückkehrrecht, wie es Israel allen Juden anbietet, ist für mich eine Farce. Ich frage sie, weshalb soll ich als in Deutschland geborene Jüdin denn zurückkehren? Aber das Rückkehrrecht für Sie, die Vertriebenen und Flüchtlinge der Nakba, ist die Rückkehr Teil des Völkerrechts.
Aus diesem Grunde spreche ich auch explizit die deutsche Bundeskanzlerin an: Beherzigen Sie die Aussage: Recht auf Heimat ist Menschrecht.
Lassen Sie mich zum Schluss betonen: Ich bin für einen demokratischen Staat Israel in den Grenzen von 1967 laut UNO-Beschluss 242. Frieden wäre sofort möglich, wenn Israel sich an die internationalen Resolutionen halten würde, das Recht auf Rückkehr für die Palästinenser erfüllt und Jerusalem als Hauptstadt für zwei souveräne Staaten, nämlich Israel und Palästina anerkennt.
43 Jahre Besatzung und Unterdrückung müssen sofort beendet werden! Lassen sie uns die Hoffnung auf Gerechtigkeit für Palästina und das palästinensische Volk nicht aufgeben! Nur zusammen sind Sie stark!"
Evelyn Hecht-Galinski - 8.5.2010
(Es gilt das gesprochene Wort)
Donnerstag, 10. Juni 2010
Über unseren Referenten Matthias Jochheim
Matthias Jochheim ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut in Frankfurt am Main. Seit 2001 gehört er zum Vorstand der deutschen Sektion von IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War, http://www.ippnw.de/). Auch er setzt sich - neben seiner beruflichen Tätigkeit - unermüdlich für einen gerechten Frieden im Nahen Osten ein.
Er war einer der deuschen Teilnehmer der Free Gaza Flotille und an Bord des türkischen Schiffes "Mavi Marmara", wo er den israelischen Angriff live miterlebt hat. Lesen Sie hier seinen Bericht.
"Gaza – die Blockade beenden!
„Mavi Marmara“ – ein Piratenakt auf hoher See
Von M.Jochheim
Diese Erinnerungen, Bilder und Geräusche werden mich sicher noch oft einholen: eng gefesselte, meist in eine knieende Position gezwungene Menschen, zu hunderten auf einem Schiffsdeck festgehalten, und von vermummten, mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten in Schach gehalten, so erlebten wir unsere Reise durch das östliche Mittelmeer, nachdem die israelische Armee handstreichartig, vor Beginn des Morgengrauens, die türkische Passagierfähre „Mavi Marmara“ überfallen und unter ihre Kontrolle gebracht hatte - in internationalen Gewässern vor der Küste von Gaza, dem Ziel unserer Reise, wohin wir als Zeichen der Unterstützung medizinische Instrumente, Medikamente, Baumaterialien und Fertighäuser, sowie andere Bedarfsgüter des täglichen Lebens bringen wollten, die die israelische Besatzungsmacht schon seit langem nicht mehr in das Gebiet lässt.
Das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins wurde verstärkt durch das infernalische Knattern und die Vibrationen, die von einem direkt über unserem Deck postierten Hubschrauber ausgingen. Ca. 40 min wurden wir ohne erkennbaren Transportzweck diesem heftigen Lärm ausgesetzt, offenbar mit der Absicht, uns unsere wehrlose Lage als nachhaltige Erfahrung einzuprägen. Sadismus als Machtdemonstration, so erlebte ich dieses Vorgehen der Uniformierten.
Schlimmeres hatte ich nur indirekt erlebt: früh um etwa 4.30 Uhr an diesem 31.Mai hatte sich die israelische Spezialtruppe über dem Deck der Mavi Marmara von Hubschraubern abseilen lassen, und dabei sehr rasch ihre Schusswaffen benutzt, um jede noch so symbolische Verteidigung des Schiffs gewaltsam zu durchbrechen. Eine Gegenwehr mit tödlich wirkenden Waffen war für die Soldaten nicht zu befürchten, denn die etwa 600 Passagiere des Schiffs waren bei Betreten auf Waffenbesitz durchsucht worden, um die Gewaltfreiheit unserer Aktion zu garantieren. Zwar waren einige Holzlatten bei Aktiven unseres Schiffes zu sehen, aber dies änderte nichts an dem - grundsätzlich auf menschenverletzende Gewalt verzichtenden - Charakter unseres Handelns, auf den wir uns als internationales Bündnis aus über 30 Ländern und auf insgesamt 6 Booten und Schiffen geeinigt hatten, die nun auf dem Weg zu unserem Ziel, der Küste von Gaza, gewaltsam angehalten, besetzt und mit Kurs auf den israelischen Hafen Ashdod entführt worden waren.
Es war nichts anderes als ein Hijacking auf hoher See; denn wenn es darum gegangen wäre, einen Waffentransport nach Gaza zu verhindern, wäre eine Durchsuchung des Schiffs und anschließende Weiterfahrt ein mögliches und mit internationalem Recht bei begründetem Verdacht auch legitimes Mittel gewesen.
Es geht aber tatsächlich, aus welchem Kalkül auch immer, um die weitere Strangulation des zivilen Lebens in dieser Enklave zwischen Mittelmeer, ägyptischem Sinai und israelischer Negev-Wüste, deren Fläche in etwa dem Stadtstaat Bremen entspricht, bei einer Bevölkerungszahl von heute etwa 1,5 Millionen Menschen, mit starker Geburtenrate. Mehr als die Hälfte der Bewohner sind arbeitslos, ebenfalls mehr als 50% leben in provisorischen Siedlungen, ohne reguläre Erwerbsquelle, seit der „Nakba“, der Katastrophe der Vertreibung aus ihren ursprünglichen palästinensischen Städten und Dörfern 1948 - abhängig von der Unterstützung durch internationale Agenturen wie UNRWA, der UN-Flüchtlingsorganisation in Palästina. Mangelernährung insbesondere von Kindern ist unter diesen Bedingungen alltäglich in Gaza, ebenso wie beinahe flächendeckende psychische Traumatisierung durch ständige Angriffe der israelischen Armee, insbesondere durch Kampfflugzeuge, und durch wiederholte Invasionen von Bodentruppen – zuletzt in großem Maßstab zum Jahreswechsel 2008/2009, als etwa 1400 Bewohner ihr Leben verloren.
Der internationale Status von Gaza ist in seiner Rechtlosigkeit wohl ziemlich einmalig in der Welt: die von der islamisch geprägten Hamas–Partei getragene lokale Regierung hat bei international unterstützten Wahlen 2006 in den besetzten palästinensischen Gebieten zwar die Mehrheit errungen, dies nahmen dann aber Israel wie auch die westlichen Geberländer zum Anlass, Steuergelder widerrechtlich einzubehalten bzw. ihre Zahlungen einzustellen, und sich an der hermetischen Abriegelung der Menschen von Gaza zu beteiligen – es scheint, dass die Palästinenser für ihr „falsche“ Wahlentscheidung bestraft werden sollten, fürwahr ein beeindruckendes Beispiel westlichen Demokratie-Verständnisses.
Die Abriegelung hat eine weitgehende Paralyse des ökonomischen Lebens mit sich gebracht, denn ohne Rohmaterialien, die importiert werden müssen, gibt es auch für die erfinderischen Menschen in Gaza wenig Chancen, zu produzieren. Sie wurden zu Almosenempfängern der Hilfsagenturen degradiert, ohne Recht auf Ausreise, und sogar der Besuch der palästinensischen Westbank ist ihnen in aller Regel verwehrt.
Dagegen richtete sich unsere internationale Aktion. Auf Handgreiflichkeiten, vielleicht auch auf Festnahme waren wir vorbereitet, nicht aber auf das, was wir dann erleben mussten: konfrontiert zu sein mit tödlicher Gewalt. In mein Gedächtnis haben sich die Szenen eingebrannt, wie erregt schreiende Helfer blutüberströmte Opfer des israelischen Überfalls die Treppe zu unserem Zwischendeck herunterschleppen; ich sehe die vier getöteten Aktiven, die in diesem Aufgang liegen, später höre ich von insgesamt 9 Todesopfern der israelischen Aktion. - Auch die Angst der zwei israelischen Soldaten kommt in mein Gedächtnis, die dort vorübergehend festgehalten werden, nachdem sie offenbar als erster Vor-Trupp isoliert und von den Wächtern auf dem Deck arretiert wurden.
Jetzt, einige Tage nach diesen Erlebnissen, scheint eine Flut von Meldungen aus allen Kanälen diese unmittelbaren Eindrücke überlagern zu sollen; man hört, es sei der Wunsch der Getöteten gewesen, ihr Leben bei diesem Anlass hinzugeben – als habe es sich bei unserer Protest- und Solidaritätsfahrt um ein Suizidprojekt gehandelt. Die Infamie von Kriegs- und Gewaltrechtfertigung ist wohl wirklich grenzenlos, und das Zusammenwirken von Menschen aus über 30 Nationen, aus Orient und Okzident auf der Mavi Marmara wohl ein besonderer Anreiz, hier mit Erfindungen jeder Art wenigstens im Nachhinein Verwirrung und Zwietracht zu säen.
Es war wohl kein Zufall, dass gerade die Mavi Marmara auf diese Weise attackiert wurde, bei einer Nacht- und Nebel-Aktion, die für die Tarnung und Rechtfertigung völlig unverhältnismäßiger Gewalt vergleichsweise günstige Bedingungen liefert.
Als IPPNW hätten wir sicher nicht an einer Aktion teilgenommen, die Todesopfer hätte erwarten lassen. Verzicht auf Menschen gravierend verletzende und erst recht auf tödliche Gewalt, dieses Prinzip der internationalen FreeGaza-Koalition wurde von Seiten unserer Mitreisenden nach allen meinen Beobachtungen auf der Mavi Marmara eingehalten.
Wir trauern um die 9 Opfer militärischer Gewalt, und hoffen, dass ihr Einsatz nicht umsonst bleibt, sondern einen Mosaikstein auf dem Weg zur Durchsetzung eines gerechten und dauerhaften Friedens zwischen Israel und Palästina beitragen kann. Dies ist nicht nur für die betroffenen Menschen in der Region von essenzieller Bedeutung, sondern darüber hinaus auch für Europa und, wohl ohne Übertreibung zu sagen: den Fortschritt für den Frieden weltweit ."
Homepage von "Free Gaza" Deutschland http://www.freegaza.de/aktuelles.php
Er war einer der deuschen Teilnehmer der Free Gaza Flotille und an Bord des türkischen Schiffes "Mavi Marmara", wo er den israelischen Angriff live miterlebt hat. Lesen Sie hier seinen Bericht.
"Gaza – die Blockade beenden!
„Mavi Marmara“ – ein Piratenakt auf hoher See
Von M.Jochheim
Diese Erinnerungen, Bilder und Geräusche werden mich sicher noch oft einholen: eng gefesselte, meist in eine knieende Position gezwungene Menschen, zu hunderten auf einem Schiffsdeck festgehalten, und von vermummten, mit Maschinenpistolen bewaffneten Soldaten in Schach gehalten, so erlebten wir unsere Reise durch das östliche Mittelmeer, nachdem die israelische Armee handstreichartig, vor Beginn des Morgengrauens, die türkische Passagierfähre „Mavi Marmara“ überfallen und unter ihre Kontrolle gebracht hatte - in internationalen Gewässern vor der Küste von Gaza, dem Ziel unserer Reise, wohin wir als Zeichen der Unterstützung medizinische Instrumente, Medikamente, Baumaterialien und Fertighäuser, sowie andere Bedarfsgüter des täglichen Lebens bringen wollten, die die israelische Besatzungsmacht schon seit langem nicht mehr in das Gebiet lässt.
Das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins wurde verstärkt durch das infernalische Knattern und die Vibrationen, die von einem direkt über unserem Deck postierten Hubschrauber ausgingen. Ca. 40 min wurden wir ohne erkennbaren Transportzweck diesem heftigen Lärm ausgesetzt, offenbar mit der Absicht, uns unsere wehrlose Lage als nachhaltige Erfahrung einzuprägen. Sadismus als Machtdemonstration, so erlebte ich dieses Vorgehen der Uniformierten.
Schlimmeres hatte ich nur indirekt erlebt: früh um etwa 4.30 Uhr an diesem 31.Mai hatte sich die israelische Spezialtruppe über dem Deck der Mavi Marmara von Hubschraubern abseilen lassen, und dabei sehr rasch ihre Schusswaffen benutzt, um jede noch so symbolische Verteidigung des Schiffs gewaltsam zu durchbrechen. Eine Gegenwehr mit tödlich wirkenden Waffen war für die Soldaten nicht zu befürchten, denn die etwa 600 Passagiere des Schiffs waren bei Betreten auf Waffenbesitz durchsucht worden, um die Gewaltfreiheit unserer Aktion zu garantieren. Zwar waren einige Holzlatten bei Aktiven unseres Schiffes zu sehen, aber dies änderte nichts an dem - grundsätzlich auf menschenverletzende Gewalt verzichtenden - Charakter unseres Handelns, auf den wir uns als internationales Bündnis aus über 30 Ländern und auf insgesamt 6 Booten und Schiffen geeinigt hatten, die nun auf dem Weg zu unserem Ziel, der Küste von Gaza, gewaltsam angehalten, besetzt und mit Kurs auf den israelischen Hafen Ashdod entführt worden waren.
Es war nichts anderes als ein Hijacking auf hoher See; denn wenn es darum gegangen wäre, einen Waffentransport nach Gaza zu verhindern, wäre eine Durchsuchung des Schiffs und anschließende Weiterfahrt ein mögliches und mit internationalem Recht bei begründetem Verdacht auch legitimes Mittel gewesen.
Es geht aber tatsächlich, aus welchem Kalkül auch immer, um die weitere Strangulation des zivilen Lebens in dieser Enklave zwischen Mittelmeer, ägyptischem Sinai und israelischer Negev-Wüste, deren Fläche in etwa dem Stadtstaat Bremen entspricht, bei einer Bevölkerungszahl von heute etwa 1,5 Millionen Menschen, mit starker Geburtenrate. Mehr als die Hälfte der Bewohner sind arbeitslos, ebenfalls mehr als 50% leben in provisorischen Siedlungen, ohne reguläre Erwerbsquelle, seit der „Nakba“, der Katastrophe der Vertreibung aus ihren ursprünglichen palästinensischen Städten und Dörfern 1948 - abhängig von der Unterstützung durch internationale Agenturen wie UNRWA, der UN-Flüchtlingsorganisation in Palästina. Mangelernährung insbesondere von Kindern ist unter diesen Bedingungen alltäglich in Gaza, ebenso wie beinahe flächendeckende psychische Traumatisierung durch ständige Angriffe der israelischen Armee, insbesondere durch Kampfflugzeuge, und durch wiederholte Invasionen von Bodentruppen – zuletzt in großem Maßstab zum Jahreswechsel 2008/2009, als etwa 1400 Bewohner ihr Leben verloren.
Der internationale Status von Gaza ist in seiner Rechtlosigkeit wohl ziemlich einmalig in der Welt: die von der islamisch geprägten Hamas–Partei getragene lokale Regierung hat bei international unterstützten Wahlen 2006 in den besetzten palästinensischen Gebieten zwar die Mehrheit errungen, dies nahmen dann aber Israel wie auch die westlichen Geberländer zum Anlass, Steuergelder widerrechtlich einzubehalten bzw. ihre Zahlungen einzustellen, und sich an der hermetischen Abriegelung der Menschen von Gaza zu beteiligen – es scheint, dass die Palästinenser für ihr „falsche“ Wahlentscheidung bestraft werden sollten, fürwahr ein beeindruckendes Beispiel westlichen Demokratie-Verständnisses.
Die Abriegelung hat eine weitgehende Paralyse des ökonomischen Lebens mit sich gebracht, denn ohne Rohmaterialien, die importiert werden müssen, gibt es auch für die erfinderischen Menschen in Gaza wenig Chancen, zu produzieren. Sie wurden zu Almosenempfängern der Hilfsagenturen degradiert, ohne Recht auf Ausreise, und sogar der Besuch der palästinensischen Westbank ist ihnen in aller Regel verwehrt.
Dagegen richtete sich unsere internationale Aktion. Auf Handgreiflichkeiten, vielleicht auch auf Festnahme waren wir vorbereitet, nicht aber auf das, was wir dann erleben mussten: konfrontiert zu sein mit tödlicher Gewalt. In mein Gedächtnis haben sich die Szenen eingebrannt, wie erregt schreiende Helfer blutüberströmte Opfer des israelischen Überfalls die Treppe zu unserem Zwischendeck herunterschleppen; ich sehe die vier getöteten Aktiven, die in diesem Aufgang liegen, später höre ich von insgesamt 9 Todesopfern der israelischen Aktion. - Auch die Angst der zwei israelischen Soldaten kommt in mein Gedächtnis, die dort vorübergehend festgehalten werden, nachdem sie offenbar als erster Vor-Trupp isoliert und von den Wächtern auf dem Deck arretiert wurden.
Jetzt, einige Tage nach diesen Erlebnissen, scheint eine Flut von Meldungen aus allen Kanälen diese unmittelbaren Eindrücke überlagern zu sollen; man hört, es sei der Wunsch der Getöteten gewesen, ihr Leben bei diesem Anlass hinzugeben – als habe es sich bei unserer Protest- und Solidaritätsfahrt um ein Suizidprojekt gehandelt. Die Infamie von Kriegs- und Gewaltrechtfertigung ist wohl wirklich grenzenlos, und das Zusammenwirken von Menschen aus über 30 Nationen, aus Orient und Okzident auf der Mavi Marmara wohl ein besonderer Anreiz, hier mit Erfindungen jeder Art wenigstens im Nachhinein Verwirrung und Zwietracht zu säen.
Es war wohl kein Zufall, dass gerade die Mavi Marmara auf diese Weise attackiert wurde, bei einer Nacht- und Nebel-Aktion, die für die Tarnung und Rechtfertigung völlig unverhältnismäßiger Gewalt vergleichsweise günstige Bedingungen liefert.
Als IPPNW hätten wir sicher nicht an einer Aktion teilgenommen, die Todesopfer hätte erwarten lassen. Verzicht auf Menschen gravierend verletzende und erst recht auf tödliche Gewalt, dieses Prinzip der internationalen FreeGaza-Koalition wurde von Seiten unserer Mitreisenden nach allen meinen Beobachtungen auf der Mavi Marmara eingehalten.
Wir trauern um die 9 Opfer militärischer Gewalt, und hoffen, dass ihr Einsatz nicht umsonst bleibt, sondern einen Mosaikstein auf dem Weg zur Durchsetzung eines gerechten und dauerhaften Friedens zwischen Israel und Palästina beitragen kann. Dies ist nicht nur für die betroffenen Menschen in der Region von essenzieller Bedeutung, sondern darüber hinaus auch für Europa und, wohl ohne Übertreibung zu sagen: den Fortschritt für den Frieden weltweit ."
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