Erklärung zur Unterstellung antisemitischer Gesinnung
Farid Esack (BDS-Süd-Afrika)
11. Januar 2017
Wieder
einmal wurde mir unterstellt, Antisemit zu sein – diesmal in
Deutschland – und unter den gleichen Umständen wie vor zwei Jahren, als
einige Individuen versuchten, französische Universitäten daran zu
hindern, mir Vortragsräume zur Verfügung zu stellen. Gegenwärtig bin ich
eingeladen, in Berlin, Freiburg, Bonn und Hamburg zu sprechen.
Die
Anschuldigungen richten sich vorwiegend gegen die internationale
BDS-Bewegung, genauer gesagt, gegen BDS-Süd-Afrika (BDS-SA), denn aus
der Art der Vorwürfe geht hervor, dass ich in meiner Eigenschaft als
Vorstandsvorsitzender von BDS-SA des Antisemitismus bezichtigt werde.
Die Anschuldigungen beinhalten die besonders erbitternde und vollkommen
haltlose Behauptung, BDS-SA habe zur Ermordung von Juden aufgerufen.
Diese
Bezichtigungen erfolgen im Rahmen einer viele hundert Millionen Dollar
teuren Operation der israelischen Regierung, die inszeniert wird, um
dem, was für Unterstützer des Kampfes der Palästinenser um Gerechtigkeit
möglich ist oder auch nur gedacht werden darf, möglichst enge Grenzen
zu setzen. Die Logik dieser Bemühungen ist ganz einfach: überall da, wo
betrübliche Ignoranz herrscht –auch in den Universitäten - für
Kontroversen bezüglich jeder Unterstützung der Palästinenser zu sorgen,
und den Verantwortlichen für die Verwaltung der Universitäten und allen
Entitäten, die Räumlichkeiten für Solidaritätsveranstaltungen mit den
Palästinensern zur Verfügung stellen, das Leben so schwer wie möglich zu
machen. Verwaltungsangestellte wollen gewöhnlich nur in Ruhe ihr Leben
leben und sind selten bereit, sich mit Kontroversen
auseinanderzusetzen.
Ich glaube keinen
Augenblick lang, dass die Personen, die solche Anschuldigungen am
lautstärksten verbreiten, diese selbst ernst nehmen. Sie wissen
lediglich ihre Wirksamkeit als Mittel zu schätzen, um jede abweichende
Meinung zu unterdrücken. Leider sind sie ebenso wie der Nazi-Mörder
Joseph Goebbels davon überzeugt, dass man eine Lüge nur oft genug
wiederholen muss, damit sie schließlich geglaubt wird. Dadurch bin ich
zu meinem Bedauern wieder einmal gezwungen, die Sache richtig zu
stellen.
Weder ich noch ein anderes
Vorstandsmitglied von BDS-SA haben jemals irgendeine Erklärung
abgegeben, die vernünftigerweise als Antisemitismus interpretiert
werden könnte. (Unter Antisemitismus verstehe ich die Vorstellung, dass
Bosheit oder irgendetwas Negatives für das jüdische Volk als ethnische
oder religiöse Gemeinschaft kennzeichnend ist, oder dass das jüdische
Volk „inhärent“ irgendwelche Gruppeneigenschaften außerhalb eines
historischen oder anderen Kontexts besitzt).
Mein
Leben lang habe ich mich konsequent gegen jede Form von „Rassismus“
gewendet. (Unter Rassismus verstehe ich sowohl das Vorurteil und die Art
und Weise, wie dieses von den Mächtigen benutzt wird, als auch die
Vorstellung, dass irgendein menschlicher Charakterzug oder eine gute
oder schlechte Eigenschaft einer bestimmten Rasse oder ethnischen Gruppe
zugeordnet werden kann, und die Tendenz der Mächtigen, sie für ihre
Zwecke nutzbar zu machen. Tatsächlich vertrete ich die Meinung, dass
bereits die Vorstellung von der Existenz bestimmter Rassen eine
wissenschaftliche Absurdität und eine menschliche Erfindung ist).
Rassismus
kann verschiedene Formen annehmen – und in dem Ausmaß, in dem viele
Juden (und andere) sich selbst als Rasse betrachten, kann die Ablehnung
alles Jüdischen als Rassismus beschrieben werden. Diese Form des
Rassismus war während eines großen Teils der Geschichte des Christentums
besonders tief verwurzelt und abscheulich.
Obwohl
die antijüdische Gesinnung in muslimischen Gesellschaften niemals das
barbarische Ausmaß erreichte wie in Europa, wo sie in der Ermordung von
rund 6 Millionen Juden kulminierte, machten sich etliche muslimische
Gesellschaften ebenfalls der antijüdischen Diskriminierung schuldig, und
leider ist antijüdischer Rassismus unter Muslimen auch heute nicht
ungewöhnlich. Als Muslim habe ich immer wieder mein Bedauern und meinen
Ärger darüber zum Ausdruck gebracht, habe diesen Rassismus als Aktivist
verurteilt und als Akademiker darüber geschrieben. Ferner habe ich eine
Kampagne gegen muslimischen Antisemitismus initiiert.
Wenn
ein Volk – gleichgültig welches Volk – sich selbst aufgrund seines
„Blutes“ oder seiner Hautfarbe besondere menschliche Charakteristika
oder Verantwortlichkeiten zuschreibt, dann ist auch das eine Form von
Rassismus.
Bestimmten Menschen aufgrund ihrer
Blutlinien bestimmte soziale Rollen zuzuschreiben oder Erwartungen an
sie zu stellen, ist ebenfalls Rassismus. Beispiele dafür sind Slogans
wie „ die Weißen sind dazu geschaffen, für die Schwarzen zu sorgen“,
„Ostasiaten sind eine ‚Muster-Minorität‘“, „Alle Weißen sind Teufel“,
„Die Iren sind dumm“ oder „Die Juden sind das auserwählte Volk“.
Die
Schrecknisse des Holocaust waren, ebenso wie andere Katastrophen der
Menschheit, in einmaliger Weise entsetzlich. Aber eine Form des
Rassismus – in diesem Fall den Antisemitismus – zu einer eigenen Klasse
zu erheben, für den ein eigener, für Antisemiten reservierter Platz in
der Hölle vorgesehen ist, ist in Wahrheit eine weitere Manifestation der
privilegierten Stellung der Weißen. Ferner ist es ein Beispiel dafür,
wie Europa seine spezifischen Ängste auf die ganze Welt projiziert.
Wer
ernsthaft besorgt über den Antisemitismus als Bestandteil seiner
Opposition gegen jede Form des Rassismus ist, muss sich davor hüten,
diese Form des Rassismus zu einem Verbrechen zu erheben, das schwerer
wiegt als andere. Dies ist besonders relevant angesichts der Tatsache,
dass die Juden in der heutigen Welt in ihrem täglichen Leben nicht die
gleiche Diskriminierung erfahren wie beispielsweise schwarze Menschen.
Alle Formen von Rassismus haben ihre Bedeutung, und jede muss
entsprechend der Wirkung bewertet werden, die sie zu einem bestimmten
Zeitpunkt in der Geschichte für ein Volk hat.
Manche
Juden versuchen verzweifelt, den gegenwärtigen israelischen Staat zu
einem Synonym der jüdischen Identität zu machen und diese Vorstellung zu
einer strikten Form von Orthodoxie zu erklären . Kritik am Staat Israel
bedeutet für sie Kritik an allen Juden. Sie „synonymisieren“ die beiden
Begriffe (die Juden und den Staat Israel).
Viele andere, darunter auch
mache orthodoxen religiösen Juden und anti- oder nicht zionistische
Juden, besonders jüngere Juden, lehnen diese Synonymisierung ab. Diese
Logik erinnert an die Behauptung des ISIS, dass jeder, der seine
besondere Form des Islam nicht akzeptiert, ein Kafir, (arabisch
für ‚Ketzer‘) oder ein Feind des Islam ist, der alle Muslime hasst.
Diese Logik (Judaismus/Juden = der Staat Israel) zu akzeptieren,
bedeutet, die vielen Juden auszuschließen, die mit dem Staat Israel
nicht einverstanden sind (entweder mit der Idee eines jüdischen Staates
oder der Vorstellung, dass dieser Staat kein Unrecht begehen kann).
Der
politische Zionismus ist der Mechanismus, den viele Juden in aller Welt
als sichersten Garanten für das Überleben des jüdischen Volkes sehen.
Manche würden sogar behaupten, er sei „die einzige Möglichkeit, um zu
überleben“. Selbst wenn man diese Prämisse akzeptiert – und viele tun
dies nicht – ist es ein eigenartiges europäisches Phänomen, ein anderes
Volk, die Palästinenser, zu zwingen, einen hohen Preis– in Form von
Leben, Würde und Land – für diese Vorstellung vom „Überleben“ zu zahlen.
Die politischen Zionisten – von denen viele Atheisten waren und sind –
haben kein Problem damit, dieses politische Projekt mit der biblischen
Vorstellung von Gottes Versprechen an das jüdische Volk zu verschmelzen,
dem Konzept des gelobten Landes.
Einem
Gemeinwesen steht es natürlich frei, an ein Versprechen Gottes zu
glauben. Aber in einer Welt, in der es zahlreiche Gemeinschaften gibt,
die alle ihre eigenen Götter und Vorstellungen von Gott und ihre eigenen
heiligen Texte haben, führt dies notgedrungen zu unschönen
Entwicklungen. Gegenwärtig besteht der einzige uns zur Verfügung
stehende Mechanismus für Gespräche, die uns aus dem Chaos herausführen
können, in den universellen Menschenrechten, dem Völkerrecht und der
dialogischen Ethik. (Die Tatsache, dass sowohl die staatlichen als auch
die nicht-staatlichen Akteure regelmäßig auf nackte Gewalt
zurückgreifen, um ohne Rücksicht auf diese ihren Willen durchzusetzen,
macht sie nicht ungültig oder sinnlos – insbesondere nicht für die
Menschen, denen es um Freiheit und Gerechtigkeit geht.)
BDS
ist eine internationale Kampagne mit dem Ziel, Israel für seine
zahlreichen Menschenrechteverletzungen gegen die Palästinenser zur
Verantwortung zu ziehen. Sie hat sehr viel mit den Folgen des
europäischen Antisemitismus für das palästinensische Volk zu tun, aber
absolut nichts mit den Überzeugungen, die der langen und abscheulichen
Geschichte des europäischen Antisemitismus zugrunde liegen. Leider ist
die antijüdische Gesinnung in Europa unter der Oberfläche nach wie vor
lebendig und aktiv. (Und ich spreche hier vom „alten Europa“ und nicht
von dem Europa der jüngsten – vorwiegend muslimischen – Immigranten.)
Die
internationale BDS-Bewegung hat ihre Wurzeln und bezieht ihre
Inspirationen aus der erfolgreichen Boykottbewegung im Kampf gegen die
Apartheid in Süd-Afrika. In dieser Bewegung spielten die deutschen
Kirchen und viele gewöhnliche Deutsche – ebenso wie Menschen aus anderen
Ländern – eine bedeutende Rolle. Gegen die Apartheid zu sein machte
einen zum Gegner der Vorherrschaft der Weißen in Süd-Afrika. Es machte
einen jedoch nicht zum Gegner Süd-Afrikas und bedeutete auch nicht, dass
man ein Gegner der Weißen war.
Ausgerechnet
Süd-Afrika in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts mit Sanktionen zu belegen, bedeutete nicht, dass man die
weißen Südafrikaner besonders hasste oder dass man nicht an
Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit in anderen Zusammenhängen
interessiert war. Es bedeutete lediglich, dass man, wenn man seinen
Aktivismus ernst nahm, mit der Realität zu kämpfen hatte, dass der Tag
nur 24 Stunden hat.
Die Entscheidung, auf welche
Manifestationen von Ungerechtigkeit sich einzelne Personen oder Gruppen
konzentrieren wollen, ist ausschließlich ihre eigene Sache. Der
Entschluss, sich gegen die Unterdrückung der Rohingya-Muslime in Burma
zu engagieren, macht einen nicht zum Hasser der Burmesen und bedeutet
auch nicht, dass man gegen das burmesische Volk, gegen Buddhisten oder
gegen die burmesische Regierung mehr Ressentiments hegt als gegen andere
Unterdrücker. Wenn man sich entscheidet, sich auf die Gerechtigkeit in
der Beziehung zwischen den Geschlechtern zu konzentrieren statt sich für
Black Lives Matter zu engagieren, bedeutet das nicht, dass man ein
Gegner der Schwarzen ist.
BDS-Süd-Afrika
arbeitet mit Mitgliedern aller Gemeinschaftenn, einschließlich der
jüdischen Gemeinschaft in Fragen der Gerechtigkeit und der Befreiung der
Palästinenser zusammen. Sie ist Teil einer internationalen und
gewaltfreien Bewegung für die Befreiung – ja, hauptsächlich die
Befreiung der Palästinenser. Aber ebenso wie das Ende der Apartheid eine
ernsthafte Möglichkeit für viele Weiße bedeutete, wirklich menschlich
zu werden und sich von ihrem Rassismus zu befreien, und ebenso wie
Gerechtigkeit für die Frauen die einzige Möglichkeit für die wahre
Befreiung der Männer ist, so wird die Freiheit für die Palästinenser die
Befreiung vieler Zionisten von ihrem rassistischen Denken und ihren
Ängste vor den Palästinensern bedeuten.