Die Luft ist erfüllt vom Lärm der israelischen F-16, die so tief fliegen, dass es schon fast einem leichten Beben gleicht. Man kann die Bomben förmlich fühlen, noch bevor sie fallen, mit diesem abscheulichen Knall, der unverwechselbar ist, mit einer Druckwelle, die die Fenster der Häuser im weiten Umkreis bersten lässt und die Wände noch Kilometer weiter zum Wackeln bringt.
Selbst wenn man weiß, rational, dass man nicht in unmittelbarer Gefahr ist, löst dieser Knall eine Urangst in einem aus, das Gefühl der Schutzlosigkeit, des absoluten Ausgeliefertseins. „Wir Menschen in Gaza sterben hunderte Male“, so sagte eine junge Palästinenserin. „Wir werden jede Nacht in Gedanken unter dem Schutt unseres einstürzenden Hauses begraben, wir werden jeden Morgen auf einem unvorsichtig eingeschlagenen Weg von Heckenschützen erschossen, wir verhungern vielleicht, weil keine Nahrung mehr hineinkommt.“
Diese Nacht sind es vier Bomben die fallen, drei in der Mitte des Gazastreifens, eine in Khan Younis. Alle haben „Terror-Ziele“ getroffen, so die offizielle Angabe des israelischen Militärs, darunter das Polizeigebäude der Marine.
Rund eine Stunde lang fliegen sie, und man versucht den Lärm zu ignorieren, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, auf den Laptop, den Text vor einem. Die Menschen Gazas schauen vielleicht fern, doch das Bild wird immer wieder gestört durch Dutzende von Drohnen am Himmel. Ihr durchdringendes, nicht enden wollendes Surren kann einen in den Wahnsinn treiben, ganz abgesehen von der Vorstellung, wie sie jedes einzelnes Haus detailgetreu aufzeichnen, jedes Auto und jede Bewegung eines Menschen, von einem selbst. Und immer ist man sich bewusst, wie sie sich in jedem Augenblick in tödliche Waffen verwandeln können. Vielleicht zielen ihre Bomben nicht auf einen selbst, aber auf das Auto neben einem, den Menschen hinter einem. Oder auf den Freund, auf dem Motorradsitz vor einem. So geschehen gestern Nachmittag in Khan Younis, als ein Widerstandskämpfer am hellichten Tage hingerichtet wurde, während er mit einem Freund Motorrad fuhr.
Wer über Gaza schreibt, wer über die Pufferzone schreibt, ohne über die Raketen zuschreiben, die von dort nach Israel hinüber geschossen werden, der würde nur die halbe Wahrheit schreiben, so wird einem vorgeworfen. Die halbe Wahrheit über getötete Bauern, angeschossene Steinsammler und Bomben in der Nacht. So wäre die andere Hälfte der Wahrheit die rund 20 Mörserraketen, die seit Beginn des Jahres in Israel gelandet sind, der israelische Soldat, der gestorben ist, durch „friendly fire“, das eigentlich einem Palästinenser gegolten hat, und die thailändischen Arbeiter, die durch Splitter einer Rakete verletzt wurden. So wäre die ganze Wahrheit ein gegenseitiger Terror, der sich auf beiden Seiten hoch stachelt, in dem beide Parteien für die Gewaltspirale gleichsam Verantwortung tragen.
Würde es sich um zwei gleichberechtigte Parteien handeln, dann wäre jede israelische Polizeistation ein legitimes „Terror-Ziel“, dann wäre jeder israelische Soldat, der an seinem freien Tag mit einem Freund auf seinem Motorrad durch Tel Aviv fährt, legitimes Ziel einer Hinrichtung. So handhabt es jedenfalls die israelische Seite. Doch hier ist die Rede nicht von Gleichberechtigung. Nein, hier spricht man von Selbstverteidigung und dem Schutz eines Staates auf der einen Seite, und von Terrorismus auf der anderen Seite.
Was aber ist mit dem Schutz der Menschen Gazas, so fragt man sich, wenn man hier lebt. Was ist mit dem Schutz der Kinder in den Schulen nahe der Grenze, die beschossen werden, der schwangeren Frauen, über denen die F-16 kreisen? Wo bleibt der Schutz des Säuglings, der in seinem Bett schlief, als vor ein paar Wochen die Kugel eines israelischen Panzers die Wand über ihm zerschmettert hat? Dies sei eine Antwort auf den Terror der Islamisten, so sagt Israel und der Mainstream-Journalismus.
Die „Terroristen“ werden Muqawima in Gaza genannt. Die Menschen, die sich nachts zur Grenze schleichen, mit selbst gebauten Raketen und Kalashnikofs. Sie kommen aus dem gesamten politischen Randspektrum Gazas, aus dem kommunistischem sowie dem radikal-islamischen, nicht jedoch aus Regierungskreisen. Dass es Hamas-Anhänger sind, die Raketen auf Israel werfen würden, ist ein weit verbreiteter propagandistischer Mythos. Zwischen Israel und Hamas herrscht seit dem Massaker in Gaza vor zwei Jahren ein Waffenstillstand, an den sich Hamas, im Gegensatz zu Israel, uneingeschränkt hält. Und nicht nur das. Hamas geht hart gegen jene militanten Splittergruppen vor, die sich nicht an den Waffenstillstand halten. Ein Krieg würde Hamas derzeit wenig nutzen, danach handeln sie. Das Abschießen von Raketen wird somit hart bestraft, viele Kämpfer dieser Gruppen wurden bereits im Vorfeld verhaftet. Israel behauptet auch gar nicht, die Raketen würden von Hamas stammen. Die israelische Rhetorik ist, dass sie "Hamas für alle Vorkommnisse in Gaza zur Verantwortung ziehen". Es ist also nicht Hamas, diese Muqawima, zu deutsch Widerstand.
Wenn es also nicht Hamas ist, gegen die sich Israel offiziell schützen muss, um wen handelt es sich bei diesem Widerstand dann? Was treibt diese Männer zur Grenze, nachts, mit selbst gebauten Raketen und Kalashnikofs?
Will man sich der angeblich anderen Hälfte der Wahrheit über Gaza widmen, so muss man sich mit dem militanten Widerstand Gazas beschäftigen.
In Europa unterscheidet die Rhetorik der Medien und Politiker traditionell zwischen westlichem und arabischem Widerstand. „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zu Pflicht“, so sagte Bert Brecht, und das ist wohl die allgemeine moralische Richtlinie, an der Widerstand im Westen gemessen wird.
Israel begeht schreiendes Unrecht in Gaza, nicht aus emotionaler, sondern aus gesetzlicher Sicht. Die gesamte Bevölkerung Gazas lebt seit fast vier Jahren unter einer vollkommenen Blockade, die Ernährung von 55% der Palästinenser in Gaza ist nicht gesichert, und 10% der Kinder zeigen Beeinträchtigungen durch Mangelernährung. Im israelischen Angriff gegen Gaza 2008/9 wurden Phosphorbomben eingesetzt. Laut Artikel 33 der vierten Genfer Konvention sind Kollektivstrafen verboten. In Artikel 55 der vierten Genfer Konvention ist festgelegt, dass die Besatzungsmacht die Pflicht hat, die Ernährung und medizinische Versorgung der Bevölkerung im größtmöglichen Umfang zu gewährleisten. Die Zusatzprotokolle von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 erklären, dass der Einsatz von Brandwaffen gegen Zivilpersonen bzw. in einer Art und Weise, in der es leicht zu sogenannten „Kollateralschäden“ kommen kann, verboten ist. Dies sind nur die gravierendsten Beispiele einer langen Liste.
Ist es also Widerstand im Brecht’schen Sinne, der die Kämpfer zur Grenze treibt? Vielleicht würden die Anhänger des militanten Flügels von PFLP, der kommunistischen Partei, dies sagen, vielleicht haben sie Marx gelesen. Sie sind es meistens, die bei israelischen Einbrüchen in Gazas Land kämpfen, wenn die Soldaten mit Panzern und Bulldozern kommen, um die Felder platt zu walzen.
Doch es bleiben immer zwei große Fragen, für jeden der Gewalt verurteilt, und sich mit dem Widerstand an der Grenze beschäftigt. Selbst wenn man akzeptiert, dass irgendwann Worte nicht mehr reichen, dass man sich irgendwann aktiv verteidigen muss, stellt sich die erste Frage: Wie kann man es hinnehmen, dass durch die Raketen auch potentiell Kinder getötet werden können? Vielleicht sollte man erwähnen, dass es sich bei diesen Raketen eher um bessere Feuerwerkskörper handelt, die im Normalfall kaum Schaden anrichten. Vielleicht spielt dies aber gar keine Rolle. Amira Hass, eine israelische Journalistin, stellte diese Frage einem Führer der Quassam Brigaden, der antwortete: "Wir wollen, dass die Mütter und Kinder in Israel die selbe Angst fühlen, die unsere Mütter und Kinder jeden Tag haben."
Die zweite große Frage ist die der absoluten Sinnlosigkeit. Jeder bessere Feuerwerkskörper, der ein Loch in der Negev hinterlässt, hat Bomben zur Folge, die die Häuser Gazas erschüttern lassen, und unschuldige Menschen unter sich begraben. Jeder bessere Feuerwerkskörper, der ein Loch in der Negev hinterlässt, erzeugt einen Aufschrei in der westlichen Presse, der hundert Mal lauter ist als eine Stimme, die über das unglaubliche Leid Gazas spricht, über das Freiluftgefängnis in dem die Menschen hier leben, unterversorgt an Nahrung und Medikamenten, die über das Unrecht spricht und über Rassismus, der den Palästinensern die elementarsten Menschenrechte entzieht.
Beschäftigt man sich mit dieser Sinnlosigkeit, so ist man schnell bei der Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein roter Faden durch das Leben derer zieht, die als Märtyrer mit ihren selbst gebauten Raketen und Kalashnikofs zur Grenze gehen. Der Tod ist fast gewiss, die Grenzzone ist ein Hochsicherheitstrakt, kaum einer kam bis jetzt lebend zurück. Besucht man dann die Familien dieser Märtyrer, trifft man auf Grundkonstanten wie Armut, Arbeitslosigkeit und Aussichtslosigkeit. Sie stammen aus den kleineren Dörfern um Gaza-Stadt, aus dem Grenzgebiet, aus den Camps, aus Flüchtlingsfamilien, die sich in kleinen Betonhäusern niedergelassen haben. Die Väter haben vielleicht noch in Israel gearbeitet, als es noch Genehmigungen hierfür gab. In Gaza gibt es keine Arbeit mehr, hier liegt die Arbeitslosigkeit seit der Blockade bei 45%. Also gibt es auch für die Kinder nichts, kaum genug zum Essen, geschweige denn Geld für ein Studium.
„Uns bleibt allein Gott“, so hört man oft, tiefe Religiosität ist die andere entscheidende Grundkostante. Denn es sind die radikal-islamischen Splittergruppen, die diese Märtyrer zur Grenze schicken, am bekanntesten davon vielleicht Islamic Jihad. Es sind die Söhne dieser Familien, die in den Tod ziehen, in dem Glauben es gäbe ein Paradies, mit all jenen Dingen, die sie auf Erden nie zu erreichen hoffen können. Sie sind oft unter zwanzig und überzeugt davon, dass sie in ihrem Leben weder Freiheit, noch Arbeit, noch das Geld zur Heirat jemals haben werden. Überzeugt davon, dass es nur der Zeitpunkt und die Art und Weise ihres Todes ist, über das sie selber bestimmen können. Vielleicht glauben sie auch, ihrem Volk helfen zu können. Vielleicht wissen sie nichts von der Stimme, die sich draußen Gehör schaffen will, die von schreiender Ungerechtigkeit und dem Leid Gazas erzählt, vielleicht glauben sie auch nur nicht an mögliche Hilfe. Wer weiß das schon? Nach dem Freitod kann man sie nicht mehr fragen, davor sind die potentiellen künftigen Märtyrer kaum ausfindig zu machen.
Die Bewohner Gazas, denen man im täglichen Leben begegnet, der Obstverkäufer, der Taxifahrer, die Freunde und Kollegen, sie alle sprechen mit Respekt von der Tapferkeit derer, die sich den israelischen Soldaten in den Weg stellen wie David gegen Goliath. Sie fühlen sich durch diese zwar nicht beschützt, aber sie schätzen, dass diese wenigstens versuchen, sich zu widersetzen.
Was aber ist mit denen, die Raketen nach Israel werfen, fragt man dann. Im Zentrum von Gaza-Stadt, in dem sich das Leben der Menschen eher im Wie als im Was von unserem unterscheidet, in dem sie eingesperrt, in Terror und Angst versuchen, einem normalen Alltagsleben nachzugehen, hier wird man kaum jemanden finden, der das verstehen kann. In manche Schuhe muss man wohl hinein geboren sein, um zu wissen wie es ist, darin zu gehen.
Nach einem Jahr in Gaza kann man sich der Beantwortung der zwei großen Fragen des militanten palästinensischen Widerstandes höchstens annähern.
Nach einem Jahr in Gaza weiß man aber etwas anderes, während man an seinem Schreibtisch sitzt, und die Luft von dem Lärm der israelischen F-16 erfüllt ist, so laut, dass es einem Beben gleicht, und man die kommenden Bomben fast schon fühlen kann. Man weiß, dass man, wenn man von israelischem Terror in der Pufferzone, von getöteten Bauern und Bomben in der Nacht spricht, nicht nur die halbe Wahrheit schreibt.
Vera Macht, Gaza; Tel: 00972597355082; Email: vera.macht@uni-jena.de
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